Hartung-Gorre Verlag
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S
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Neuerscheinung
April 2013
Erhard Roy Wiehn
Die Edition Schoáh &
Judaica
Entstehung und Entwicklung
sowie Autorinnen und Autoren
1983-2013
1. Aufl. 2013; 98 Seiten, EUR 14,80.
ISBN 978-3-86628-456-2
Aus dem Vorwort von Renate Gorre
Was
bleibt
Ein umfangreiches, ein verdienstvolles
Werk, das der seit 2002 emeritierte Professor der Soziologie, Erhard Roy Wiehn,
vor nahezu 30 Jahren begonnen hat. Zu diesem Werk gehört die Schriftenreihe
„Shoáh und Judaica“, die Erinnerungen von Juden, die die Zeit der
nationalsozialistischen Verfolgung überlebt haben, sammelt, der Öffentlichkeit
zur Kenntnis bringt und für die Zukunft bewahrt. Diese individuellen
Erinnerungen, aufgeschrieben unter seelischen Qualen, sind Zeugnisse gemeinsam
erfahrener Judenfeindschaft. Sie erzählen von persönlicher Herabsetzung,
öffentlicher Ausgrenzung, schließlich, des Lebensrechts beraubt, vom
Überlebenskampf in Ghettos und Lagern,
den sicheren Tod vor Augen. Von der
Flucht aus Deutschland, aus den von den nationalsozialistischen
Machthabern besetzten Gebieten, oft in letzter Minute, kaum mehr als das nackte
Leben rettend. Mit ungewissem Ausgang.
So werden in eine Landkarte, deren
Koordinaten von der militärischen und administrativen Reichweite des
Nationalsozialismus, ihrer Verbündeten und Zuarbeiter vorgegeben sind, Orte des
Grauens, Orte authentischer Erfahrung von Erniedrigung, Hunger, Elend und Tod
eingetragen. Fragmente eines schwarzen Mosaiks. Orte des familiären Alltags,
seines Glücks und seiner Kümmernisse, des beruflichen Auskommens, der
gesellschaftlichen und kulturellen Verbindungen gerieten zu Orten von
Ausgrenzung, Verleumdung, Misshandlung, Verschleppung und, selten genug,
gelungener Flucht. Ohne Zeit für Abschied. Zuhause war keine Heimat mehr.
Flucht und Überleben, alles hing vom
Zufall ab.Von zufällig glücklich endenden Begegnungen, der eigenen
Kaltblütigkeit, der Bestechlichkeit eines Ghettopolizisten, der Standhaftigkeit
eines Gefolterten, auch von einer überraschend nachsichtigen Reaktion eines
Häschers, dem der Sinn für einmal nicht auf Mord und Totschlag gerichtet war,
der Hilfsbereitschaft eines Arztes, einem zugesteckten Stück Brot, der Laune
eines Vorübergehenden. Aber auch von der unbeirrbaren Menschlichkeit einiger
weniger, die ihr eigenes Leben riskierten und das ihrer Familien, um andere
Leben zu retten. Lichter auf dunklem Grund.
Nur wenigen, denen die Orte der
Vernichtung, der Vernichtung von Name, Würde und Leben, zugleich Orte ihres
Überlebens waren, eines Lebens an der äußersten Grenze von Verzweiflung und
Ohnmacht, war es möglich über ihre Erfahrungen zu sprechen, zu schreiben.
Viele, die diese Hölle überlebt hatten, schwiegen. Sie hielten die
Schreckensbilder in sich verschlossen. Oft vergingen Jahrzehnte, bevor sie die
Schrecken der Vergangenheit, die wie Schatten an ihren Leben haften, in Worte,
in Sätze fassen konnten. Um sich – endlich – der ihnen aufgetragenen Pflicht
zur Erinnerung zu fügen, nie zu vergessen und zu erzählen, damit die ganze Welt
erfährt, was hier geschieht. Dabei erkennen zu müssen, dass der Sprache die
Worte fehlen, um die Wirklichkeit der Lager angemessen zu beschreiben. So
umkreisen diese Texte in hellsichtiger Verzweiflung die Zufälligkeit des
eigenen Überlebens, begleitet von Schuldgefühlen, als hätten die toten Opfer
des planmäßigen Mordens mit ihrem Tod für das Leben der Geretteten bezahlt.
Die herausgeberische Tätigkeit von
Erhard Roy Wiehn, der die Erinnerungs- und Schreibarbeit der Autoren
anteilnehmend und ermutigend, sicher oft bis an den Rand der eigenen
Belastbarkeit, begleitet und gefördert hat, kann kaum genug gewürdigt werden.
Für viele der Überlebenden, die ihre Schicksale aufzeichneten, bot die
Veröffentlichung in der Reihe „Shoáh und Judaica“ eine Zuflucht für ihre Trauer
über das, was unwiederbringlich und willkürlich zerstört worden ist, und eine
Art Grabstein für die, denen nicht einmal ein Grab zugedacht gewesen war.
Die vielen Freundschaften, die dem
Herausgeber und seiner Frau Mirjam Wiehn, deren vielfältige Unterstützung nicht
unerwähnt bleiben soll, aus der Editionsarbeit erwuchsen, sprechen für sich.
Sie sind auch ein Zeichen tief empfundener Dankbarkeit und gegenseitiger
Wertschätzung. Die Aufzeichnungen der Überlebenden, ein mikrohistorisches
Archiv des Holocaust, weisen über die Dokumentation und das Sammeln von
Einzelschicksalen hinaus. Nachzudenken wäre nicht allein über die
Unzulänglichkeit der Sprache, das Geschehene zu beschreiben, nachzudenken wäre
auch über die Begriffe, mit denen sich eine Gesellschaft über ihre
Vergangenheit verständigt. Nach Maßgabe der Bedeutung dieser Begriffe für die
Perspektive der Opfer. Ihre Stimmen gehören zum Diskurs der Geschichte. Ein
Stachel für die Identität stiftende Funktion des kulturellen Gedächtnisses
einer Gesellschaft.
Was bleibt, ist die nicht zu
beantwortende Frage, wie das hat geschehen können. Was bleibt, ist die
wiederkehrende Trauer über das ungeheure Leid, von dem die Erzählungen
berichten. Was bleibt, ist der Auftrag, nie zu vergessen und zu erzählen und
damit das Nachdenken darüber, was es auch methodisch bedeutet, die Stimmen der
Opfer in den Diskursen von Geschichtsschreibung und Erinnerungskultur zu hören
und hören zu wollen.
Anmerkung:
Dem aufmerksamen Leser wird nicht entgangen sein, dass die meisten der von mir
gebrauchten Formulierungen nicht von mir sínd. Ich habe sie den Titeln und
Erzählungen der Reihe „Shoáh und Judaica“ entnommen, ohne sie im Einzelnen zu
kennzeichnen.
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