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Neuerscheinung 1998

 

 

 

Jiří Weil
Elegie für 77297 Opfer
Jüdische Schicksale in Böhmen und Mähren 1939-1945.
Aus dem Tschechischen von Avri Salamon.
Herausgegeben von Erhard Roy Wiehn
Konstanz 1999, 36 Seiten, EUR 9,20. ISBN 3-89649-440-6

 

 

 

 

 

 

Die NZZ schreibt in einer Buchbesprechung über Jiří Weil:

2. September 2008, Neue Zürcher Zeitung

Zur falschen Zeit am falschen Ort
Der Tscheche Jiří Weil überlebt schreibend den Holocaust
Ulrich M. Schmid

Die Tschechen haben schon immer einen besonderen Sinn für die Absurdität der Weltgeschichte gehabt. Die eigene Existenz haben sie in der Regel als Ausnahmefall erfahren: Die k. u. k. Bürokratie bedrohte das authentische Leben mit Rundstempeln und Ärmelschonern, nach der Erlangung der Unabhängigkeit fand sich die Tschechoslowakei als einzige osteuropäische Demokratie von autoritären Regimen umzingelt, 1939 wurde die unabhängige Republik zum ersten Opfer von Hitlers Machtgelüsten, nach dem Zweiten Weltkrieg behaupteten die Kommunisten zynisch, eine egalitäre und gerechte Gesellschaft zu schaffen, führten dabei aber nur eine bisher ungekannte Gewaltherrschaft ein.

Der tschechische Schriftsteller Jiří Weil (1900 bis 1959) ist durch seine Lebensdaten genau in den Strudel der Geschichte geraten. In jeder Epoche verfügte er über die falsche Identität: Im freien Staat der Zwischenkriegszeit war er Kommunist, im Moskau der dreissiger Jahre war er Antistalinist, während der nazideutschen Besetzung war er Jude, in der Nachkriegs-ČSSR war er ein unerwünschter Zeitzeuge jener Verbrechen, die unter der roten und der brauen Diktatur verübt worden waren. Möglicherweise hat aber gerade die jeweils windschiefe Perspektive Weils Blick für das Wesentliche geschärft. In seiner Prosa enthält er sich jeder moralischen Anklage. Mehr noch: Oft sublimiert er die absurden Geschehnisse in jenem typisch tschechischen Humor, der die Absurdität des Tatsächlichen nur schon durch schonungslose Benennung entlarvt.

Gleichzeitig kann Weil aber auch dem Tragischen mit einem fast antiken Furor zum Durchbruch verhelfen, ohne je ins Sentimentale abzugleiten. Die Heidelberger Slawisten Bettina Kaibach und Urs Heftrich legen nun einen äusserst lesenswerten Band mit Erzählungen vor, in dem das gesamte künstlerische Spektrum von Jiří Weil erkennbar wird. Der Text über das Strassburger Münster ist auch als Einzelausgabe mit einem Begleitessay erschienen – die Publizistin Alena Wagnerová wandelt fast siebzig Jahre später auf Weils Spuren und vergleicht das Elsass des 21. Jahrhunderts mit jenem der dreissiger Jahre.

In den Vorkriegserzählungen dokumentiert Weil das fragile Lebensgefühl in Europa, das der immer bedrohlicher werdenden Kriegsangst das Glück jedes einzelnen Tages abtrotzt. Den Schrecken des Holocaust gestaltet Weil in überraschenden literarischen Gattungen. Zehn Prosagedichte aus dem Jahr 1946 fangen die «Farben» der nationalsozialistischen Verfolgung mit expressionistischer Sprachkraft ein: So spiegelt sich das Grau des Guillotine-Beils im violetten Gesicht des Hingerichteten, das Gelb des Judensterns hebt sich von der Schwärze des Menschenschlachthofs ab. Ein anderes Formprinzip wendet Weil in seinem «Klagegesang für 77 297 Opfer» an – so viele tschechische Juden wurden von Hitlers Schergen umgebracht. In dieser Collage montiert der Erzähler Zeitungsberichte, Psalmen und eigene drastische Schilderungen hart aneinander. Die erschütternde Wirkung des Textes ergibt sich aus dem scharfen Kontrast der verschiedenen sprachlichen Erfahrungswelten, in denen sich der Autor bewegt. Jiří Weil ist als literarischer Mahner an den Holocaust noch immer zu entdecken.

Jiří Weil: Sechs Tiger in Basel. Erzählungen. Ausgewählt von Urs Heftrich und Bettina Kaibach. Übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Bettina Kaibach. Kommentiert von Michael Špirit. Libelle-Verlag, Lengwil, Konstanz 2008. 220 S., Fr. 31.70.
Jiří Weil: Das Strassburger Münster. Alena Wagnerová: Was hat ein Tscheche im Elsass zu suchen. Fotos František Zvardon, Karlheinz Köhler, Nachwort Marie Janů. Gollenstein-Verlag, Merzig 2007. 80 S., Fr. 20.30.

 

„Was aufgeschrieben, veröffentlicht und in einigen Bibliotheken der Welt aufgehoben ist, wird vielleicht nicht so schnell vergessen.“
(
Erhard Roy Wiehn)

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