MenschenArbeit Freiburger
Studien Band 24
Herausgegeben von Michael N. Ebertz,
Werner Nickolai und Helmut Schwalb
Michael N. Ebertz, Werner
Nickolai, Renate Walter-Hamann (Hrsg.)
2009, 186 Seiten, € 18,00. ISBN 3-86628-233-8
ISBN-13: 978-3-86628-233-9
Rezension in „Freiburger Rundbrief“ 4/2010,
Zeitschrift für christlich-jüdische Begegnung, Seiten 305-307.
Das Buch, das demnächst eine zweite Auflage erhalten
wird, geht unter die Haut und macht das Grauen der NS- Ideologie und der
entsprechenden Gesellschaft nachvollziehbar. Werner Nickolai beschäftigt sich
schon seit Jahren aus sozialarbeiterischer Sicht mit dem Nationalsozialismus
und ist zusammen mit dem Christophorus Jugendwerk in Oberrimsingen im Verein "Für
die Zukunft lernen - Verein zur Erhaltung der Kinderbaracke Auschwitz- Birkenau
e. V." engagiert. Für die Zukunft lernen könnte auch die
Überschrift sein zur Ringvorlesung, die dem Buch den Titel lieh, durchgeführt
im Jahre 2007 an der Kath. Fachhochschule Freiburg. Der erste Beitrag (" Wohnungslose
im Nationalsozialismus") von Wolfgang Ayass thematisiert den
NS-Umgang mit Wohnungslosen, Bettlern u. a. ab demjahr 1933 am Beispiel des
Wandermusikers Ernst Rutzen. Ab 1938 wurden Wohnungslose nicht nur verfolgt und
kriminalisiert, sondern auch in großer Zahl in Konzentrationslager verschleppt
(Aktion "Arbeitsscheu Reich" im Nazijargon). Der Autor
problematisiert hier auch den Begriff "nichtsesshaft", der aus der
NS-erminologie in die heutige Fachsprache der Sozialarbeitswissenschaft
eingewandert ist. Bettler, Wanderarbeiter, Landstreicher wurden als
"arbeitsscheu" und "asozial" diskriminiert, ausgegrenzt,
zwangssterilisiert (ab 1934) und später auch systematisch ermordet. Fürsorgeeinrichtungen
stellten im NS-System keinerlei Schutz, sondern eher eine Bedrohung für sie
dar. Rassistische Ideologie und fürsorgliche Disziplinierung wirkten hier
unheilvoll ineinander. In "Spätes Tagebuch" beschreibt Max
Mannheimer minutiös in erschütternder Weise den Lageralltag in den
Konzentrations- und Todeslagern Theresienstadt, Auschwitz, Warschau und Dachau.
"Die Wahrheit war anders. Es gab keine Kindergärten. Es gab keine Besuche.
Es gab nur Hunger, Elend und Tod" (49).
Die Sozialarbeit wird von Werner Nickolai ("Eine
Profession erinnert, auch an sich selbst: Sozialarbeit und
Nationalsozialismus") sehr kritisch in den Blick genommen. Auch der
Exodus der entstandenen Sozialarbeitstheorie von Pionierinnen, wie z. B. die 1916
zum Protestantismus konvertierte Alice Salomon, die ins Exil fliehen musste,
macht deutlich, dass Sozialarbeit in ihrem Selbstverständnis mit dem
Nationalsozialismus eigentlich unvereinbar sein müsste. Soziale Arbeit als
diakonische Arbeit ist im NS-Staat in dieser Form fast völlig zum Erliegen
gekommen, ja geradezu zum Handlanger der NS-Tötungsmaschinerie im
Gesundheitswesen mutiert. Innerhalb kirchlich verantworteter Sozialarbeit hat
die kritische Aufarbeitung der eigenen Verstrickung in das NS-System erst
begonnen. Harald Welzer fokussiert in seinem Beitrag über "Die
Deutschen und ihr ‚Drittes Reich'" die Alltagswirklichkeit als
Teilhabemöglichkeit für die Deutschen, die den rassistischen Vorgaben der
NS-Ideologie entsprachen. Welzer charakterisiert den radikalen Wertewandel als
"fortschreitende Normalisierung radikaler Ausgrenzung" (63). Nichtbetroffene
nahmen die mörderischen Maßnahmen der Nazis nur unzureichend wahr, gleichwohl
bedeutete auch die Nicht-Wahrnehmung Unterstützung des Wertewandels
zwischenmenschlicher Umgangsformen (66). Normgebend wurde genau das, was wir
aus heutiger Perspektive menschenverachtendes Verhalten nennen würden.
Stephan Marks ("Über Nationalsozialismus, Scham und die Folgen") rückt
den Zusammenhang von Nationalsozialismus und Beschämung/Scham in den
Vordergrund. Im Forschungsprojekt "Geschichte und Erinnerung" wurden
40 Zeitzeugen aus der NS-Zeit befragt und in den Interviews die
Beschämungsstrukturen der NS-Ideologie rekonstruiert. Hitler wird "als
derjenige beschrieben, der die Ehre Deutschlands wieder herstellt [ ... ]"
(82). Diese Beschämungsstrukturen wirkten, so die These Marks', nachhaltig in
der heutigen deutschen Gesellschaft nach und verhinderten Demokratisierungs-
und Partizipationsprozesse. Peter-Otto Ullrich ("Nicht an ihrem Ort.
Sondierungen zu Stellung und Verhalten der römisch-katholischen Kirche in der
nationalsozialistischen Gesellschaft aus heutiger Sicht") rekonstruiert die verschiedenen Phasen der
Einvernahme der röm.-kath. Kirche in das nationalsozialistische Unrechtssystem.
Der Autor beklagt das Schweigen der Amtsträger, das zu einer massiven Vertrauenskrise
zwischen Kirchenleitungen und Kirchenvolk geführt habe; das Reichskonkordat
habe den politischen Katholizismus zum Schweigen gebracht oder Personen an das
NS-Regime ausgeliefert. Auch das Verhalten der Amtskirche der jüdischen
Bevölkerung gegenüber war von taktischem Interesse des eigenen Überlebens und
von Opportunismus geprägt, was letztlich zur Perfektionierung der
NS-Vernichtungsmaschinerie beigetragen habe. Thomas Broch macht mit "Fragen
zur Rezeption des Nationalsozialismus in Kunst, Literatur und Film" auf
die abgründige Dialektik von Kunst aufmerksam, die, wenn sie den
Nationalsozialismus fokussiert, nicht nur Kunst sei, sondern immer auch
Dokument der Barbarei. Lesens- und empfehlenswert ist das Buch für alle, die in
pädagogischen Berufen arbeiten und sich selbstkritisch mit der NS-Ideologie
auseinandersetzen.
Wilhelm Schwendemann, Freiburg
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Michael
N. Ebertz, Werner Nickolai, Renate Walter-Hamann
„Wohnungslose
im Nationalsozialismus“
Wolfgang
Ayass
Spätes
Tagebuch
Theresienstadt
– Auschwitz – Warschau – Dachau
Max
Mannheimer
Eine
Profession erinnert, auch an sich selbst:
Sozialarbeit
und Nationalsozialismus
Werner
Nickolai
Die
Deutschen und ihr „Drittes Reich“
Harald
Welzer
Über
Nationalsozialismus, Scham und die Folgen
Stephan
Marks
Nicht
an ihrem Ort
Sondierungen
zu Stellung und Verhalten der römisch-katholischen Kirche in der
nationalsozialistischen Gesellschaft aus heutiger Sicht
Peter-Otto
Ullrich
Fragen
zur Rezeption des Nationalsozialismus in Kunst, Literatur und Film
Thomas
Broch
Die
Herausgeber, Autorinnen und Autoren
Ayaß,
Wolfgang, Prof. Dr., Historiker, MA, Dipl. Sozialarbeiter,
außerplanmäßiger Prof. an der Universität Kassel FB 4
Broch,
Thomas, Dr. theol., Pressesprecher der Diözese Rottenburg-Stuttgart
Ebertz,
Michael, Prof., Dr., Dr., Dipl.Theologe, Dipl. Soziologe, Prorektor an
der
Katholischen Fachhochschule Freiburg
Mannheimer,
Max, Dr. h.c., Präsident der Lagergemeinschaft Dachau e.V.,
Marks,
Stephan, Dr., Sozialwissenschaftler, University of Education,
Pädagogische
Hochschule Freiburg
Nickolai,
Werner, Prof., Dipl. Sozialarbeiter,
Katholische
Fachhochschule Freiburg
Ullrich,
Peter-Otto, Dr. phil., Dipl. Theologe,
Abteilungsleiter
im Bischöflichen Ordinariat Mainz
Walter-Hamann,
Renate, Dipl. Pädagogin,
Referatsleiterin
im Deutschen Caritasverband
Welzer,
Harald, Prof. Dr., Center for Interdisciplinary
Memory Research, Essen
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Reihe "MenschenArbeit. Freiburger Studien" im Hartung-Gorre Verlag
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