Hartung-Gorre Verlag

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Karl Iosifowitsch Epstein

Weihnachten 1942

Ein jüdischer Junge

überlebt deutsche Massaker in der Ukraine

und erlebt als ukrainischer "Ostarbeiter"

eine deutsche Weihnacht in Berlin

Aus dem Russischen von Gabriele Pässler

Herausgegeben von Erhard Roy Wiehn
Konstanz 2011, 82 Seiten, 5 Farbseiten.
ISBN 978-3-86628-389-3

 

 

 

 

 

Aus dem Vorwort des Herausgebers

 

Der Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 – 2011 vor 70 Jahren – führte dann zur Schoáh, zur Katastrophe, für die jüdische Bevölkerung in allen deutschbesetzten sowjetischen Territorien. Den kämpfenden deutschen Truppen auf dem Fuße folgten damals die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD: Einsatzgruppe A im Baltikum, Einsatzgruppe B in Weißrußland, Einsatzgruppe C (mit den Sonderkommandos 4a und 4b sowie den Einsatzkommandos 5 und 6) für die Ukraine und Einsatzgruppe D für Bessarabien, die Südukraine, die Krim und Kaukasien. Die Aufgabe dieser Einsatzgruppen mit einer Stärke von insgesamt ca. 3.000 Mann bestand in der mehr oder weniger sofortigen oder jedenfalls baldigen Liquidierung der jüdischen Bevölkerung direkt vor Ort.

 

Die Tötung der Juden wurde in den sogenannten "Ereignismeldungen UdSSR" von den Einsatzgruppen selbst dokumentiert: Nr. 1 ist am 23. Juni 1941 datiert, die letzte ist Nr. 195 vom 23. April 1942.  Allein in den ersten drei Wochen nach dem 22. Juni 1942 wurden z.B. in Lwiw (Lwow, Lemberg 3.000, Chernivtsi (Czernowitz) 2.400, Kamenez-Podilskij 14.000 Menschen ermordet. Das Sonderkommando 4a der Einsatzgruppe C hatte allein bis zum 6. September 1941 insgesamt 11.328 Juden liquidiert. Grausiger Höhepunkt war das Massaker von Kiew Babij Jar, wo am 29. und 30. September 1941 33.771 Juden erschossen wurden, Männer, Frauen und Kinder. Man schätzt, daß 1941 bis 1944 ca. 1,4 der rund 2 Millionen Juden auf ukrainischem Territorium ermordet wurden. Insgesamt dürften über 2,2 Millionen, d.h. fast die Hälfte der auf sowjetischem Territorium lebenden ca. 4,7 Millionen Juden den Deutschen und ihren Verbündeten zum Opfer gefallen sein, davon vom Sommer 1941 bis Frühjahr 1942 etwa ein Drittel, d.h. ca. 700.000. Überdies wurden allein aus der Ukraine und angrenzenden Gebieten bis 30. Juni 1944 fast 2.200.000 Menschen als "Ostarbeiterinnen" und "Ostarbeiter" auf deutsches Reichsgebiet verbracht. – Das sind nur einige wenige Daten zum Kontext der folgenden außergewöhnlichen Überlebens- und Nichtüberlebensgeschichte aus der Ukraine.

 

Die Deutschen besetzen die südwestukrainische Kleinstadt Dunajewtsi (Dunaivsti), die Stadt seiner Familie mit ca. 5.000 Juden, am 11. Juli 1941. Wie durch mehrere Wunder gleichzeitig überlebt der jüdische Junge Karl Iosifowitsch Epstein den ersten grausamen Pogrom am 8. Mai 1942, während dessen ca. 2.500 Juden in einer Phosphat-Mine bei lebendigem Leibe begraben werden. Er übersteht anschließend das unmenschliche Leben und Leiden im Getto von Dunajewzi überlebt, um vor dem zweiten Pogrom am gleichen Ort am 18. Oktober 1942 die Flucht vor dem sicheren Tod zu riskieren, was ihm unter wahnwitzigen Umständen und mit schier unglaublichem Glück tatsächlich gelingt.

 

Besprechung des Buches in rpp-katholisch.de: Religionspädagogisches Portal der katholischen Kirche (rpp-katholisch.de)

Sie finden sie im Original an dieser Stelle (31.12.2011):

http://www.rpp-katholisch.de/B%C3%BCcherundMedien/tabid/88/ctrlToLoad/Details/nid/6566/Default.aspx

 

Die Lebensgeschichte von Karl Epstein beginnt in 1930 in Krementschug in der Nähe von Kiew in der Ukraine. Er wurde in eine Familie jüdischen Glaubens mit aktiver kommunistischer Überzeugung hineingeboren, die bereits unter den stalinistischen „Säuberungen“ 1937 schwer gelitten hatte. Eine schreckliche Wende nimmt sein Lebensweg am 22. Juni 1941, als die deutsche Wehrmacht die Sowjetunion überfiel.

War schon das Kriegsgeschehen grausam, so war das Vorgehen der auf sie folgenden Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD (= Sicherheitsdienst des Reichsführers der SS) ungleich furchtbarer. Ihre Aufgabe bestand unter anderem darin, die gesamte jüdische Bevölkerung direkt vor Ort zu ermorden. Das Töten begann unmittelbar im Sommer 1941. Viele Dörfer wurden bis auf den heutigen Tag vollständig ausgelöscht. Heute ist weiteren interessierten Kreisen das Massaker von Babij Jar bekannt, wo am 29. und 30. September 1941 33.771 Juden erschossen wurden, Männer, Frauen und Kinder. Bis 1944 starben bei Pogromen ca. 1,4 Millionen der ca. 2 Millionen ukrainischer Juden. Aus der Ukraine wurden von der restlichen Bevölkerung etwa 2,2 Millionen Menschen als sogenannte Ostarbeiterinnen und Ostarbeiter zur Arbeit ins Deutsche Reich deportiert.

Am 11. Juli 1941 besetzten deutsche Truppen die südwestukrainische Kleinstadt Dunajewtsi (Dunaivsti), in der Karl Epstein mit seiner Familie und weiteren ca. 5.000 Juden lebte. Auf an Wunder grenzende Weise überlebte er das Pogrom am 8. Mai 1942, bei dem alleine 2.500 Juden durch das Begraben bei lebendigem Leib in einer Phosphatmine ermordet wurden. Unter Aufbietung der letzten Lebenskräfte überstand er die Zeit im örtlichen Ghetto und floh am 18. Oktober 1942, kurz bevor das das Lager liquidiert werden sollte. Seine Mutter und Schwestern blieben zurück.

Ihm gelang es, die Identität eines etwas älteren russischen nichtjüdischen Jungen anzunehmen und mit einem Ostarbeitertransport nach Berlin zu reisen. Er wurde der Firma Riedel, einem Chemieunternehmen, zugewiesen und lebte in einem Ostarbeiterlager. Bis zu diesem Zeitpunkt war er dem sicheren Tod mehrfach entkommen, durch eigenes Geschick, vor allem aber auch durch den Mut von Menschen, die sich seiner annahmen. Karl Epstein lebte die gesamte Zeit in Angst vor der Aufdeckung seiner eigentlichen Identität und damit seiner Religionszugehörigkeit.

Trotz dieser fatalen Situation fasste er Vertrauen zu Deutschen, mit denen er arbeitete. Es scheint, als mochten sie den schmächtigen Buben, der kaum eine vollwertige Arbeitskraft sein konnte. Ob sie Anhänger von Adolf Hitler waren – Karl Epstein erfuhr es nie, wohl aber, dass sie den Krieg vollständig ablehnten. Er konnte den Gesprächen der Deutschen gut folgen, denn seine Muttersprache, die er in Deutschland niemals verwenden durfte, war das Jiddische. Es nahte das Weihnachtsfest 1942 – ein Fest das der Junge bis dahin nicht kannte. „Sein Deutscher“, der Arbeiter, dem er zugeteilt war, erwies sich als ein äußerst mutiger Mann. Er brachte schöne Kleidung für den Zwölfjährigen mit und nahm ihn für zwei Tage zu sich nach Hause mit, um ihm in seiner Familie ein Weihnachtsfest zu bereiten. Das Ostarbeiterzeichen trug er nicht und aufgrund der Kleidung unterschied er sich von deutschen Jungen nicht. Das Ehepaar behandelte ihn wie einen lieben Gast. Selbst die eingeladene Verwandtschaft, darunter ein Offizier der Deutschen Wehrmacht, die an den Endsieg glaubte, verriet die Anwesenheit des Jungen keiner offiziellen Stelle. Karl nahm das Weihnachtsfest – was seine Gastgeber nicht ahnen konnten – innerlich sehr stark mit. In den Enkelkindern des Arbeiters sah er die ermordeten Kinder von Dunajewtsi. Immer und immer wieder fragte er sich angesichts dieser schönen Feier und der freundlichen Menschen, warum Deutsche Juden umbrachten: Seine eigene Mutter, seine Schwester Rosa, sein Schwesterchen Schenja. Innerlich war er völlig zerrissen.

Und doch, der deutsche Arbeiter hat durch sein gegen alle geltenden Vorschriften gerichtetes Handeln Menschlichkeit in das Leben von Karl Epstein gebracht. Vielleicht waren diese beiden Tage und die im Haus der Deutschen verbrachte Nacht für ihn jene Kraftquelle, die er benötigte, um weitere drei Jahre der Kindheit und Jugend in Zwangsarbeit zu überleben und den Glauben an einen Rest des Guten im Menschen nicht zu verlieren. Seine verschriftlichten Kriegserzählungen enden mit dem Weihnachtsfest 1942. Danach durchlitt er noch Zeiten im Gefängnis in Moabit wegen angeblicher Sabotage und nachdem man ihn nach der Flucht bei einer Razzia aufgriff. Bei Kriegsende war Karl Epstein 15 Jahre alt und wog 24 Kilogramm.

Wer selber im Kontakt mit ehemaligen Ostarbeitern steht, wer ihre noch heute Grauen erregenden Kriegserinnerungen hören musste (und hören durfte), weiß diese niedergeschriebene Lebenserzählung ganz hoch zu schätzen. Es ist das Erleben eines Kindes, das dem Alter nach zum Jugendlichen wurde, dabei aber lange schon wie ein Erwachsener denken und handeln musste. Für Jugendliche heute kann dieser Lebensbericht z.B. für eine Facharbeit mit Unterstützung durch geeignete begleitende Lektüre und Gesprächspartner einen wirklichen Zugang zum Thema Nationalsozialismus und Krieg ermöglichen. Die Frage nach der Motivation des Deutschen, das Kind mitzunehmen, ihm Herberge zu bieten, gerade an dem Tag, der sonst nur der eigenen Familie gewidmet ist, wird sich auch dann noch einmal neu stellen.

„Weihnachten 1942“ ist beeindruckendes Buch, das einen wirklich interessierten Leserkreis verdient.

Barbara Wieland im Dezember 2011

 

 

 

 

Bücher aus der Edition Schoáh & Judaica,

herausgegeben von Erhard Roy Wiehn

 

Bücher zum Massakers von Kiew-Babij-Jar am 29./30.September 2011

 

Zum Inhaltsverzeichnis der Edition / to the contents of the edition Shoáh & Judaica / Jewish Studies

 

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