Hartung-Gorre Verlag
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Neuerscheinung August
2022
Andrei Corbea-Hoişie und Erhard Roy Wiehn
(Hg.)
Ich will leben
Eine Hommage an Dr.
med. Mirjam Bercovici
zum 99. Geburtstag
im September 2022
1. Aufl. 2022; 104 Seiten, EUR 19,80
ISBN 978-3-86628-770-9
Aus dem Vorwort von Andrei Corbea-Hoisie
Von
"babylonischen Zeiten"
In Lausetracht,
im lumpigen Gewand,
Ziehen wir aus Morgenland in
Sorgenland
(Immanuel Weissglas
– Ahasver)
In ihrem neuen Buch, das sich als
"Intervention" zur Debatte über "Das neue Unbehagen an der
Erinnerungskultur" versteht, erwähnt Aleida Assmann u.a. jenen von
Reinhart Koselleck zugespitzten Vorwurf der Berufshistoriker an die
Zeitzeugnisse, die sich auf dem menschlichen Erinnern stützen: ihrer
"Subjektivität" und "Emotionalität", von denen einen
gradliniger Weg zur "Ideologie" und zum "Mythos" führe,
setzte Koselleck die "Objektivität" und die "Distanz" der
Geschichtsschreibung entgegen, die den Zugang zur "Wahrheit"
garantieren könnten. Dieser vermeintlichen Dichotomie, die sie bloß für
"platt" hält, erwidert die Konstanzer Kulturwissenschaftlerin
dadurch, dass sie gerade dem individuellen und kollektiven Gedächtnis die Rolle
zuschreibt, "der Masse des historischen Wissens Leben einzuhauchen in Form
von Bedeutung, Perspektive und Relevanz". Selbstverständlich müsste man,
laut Aleida Assmann, auch die Konstruktionen des Gedächtnisses in ihrem
unmittelbaren Gegenwartsbezug kritisch überprüfen, aber dies würde keinesfalls
die Tatsache beeinträchtigen, dass gerade "im Medium der Erinnerung […]
man sich in der Gegenwart für die Zukunft gemeinsam Ziele [setzt]".
Eine derartige theoretische Erörterung
ermutigt mich, zu behaupten, dass die zwanzig Jahre, die seit der ersten
Drucklegung (in deutscher Sprache und dann in rumänischer Originalfassung) des
vorliegenden Tagebuchs, das die Adoleszentin Mirjam Korber aus dem rumänischen Câmpulung (Kimpolung) zwischen
1941–1943 in der transnistrischen Verbannung geführt hatte, nicht
"umsonst" vergangen sind. Diese Schrift, zusammen mit einer ganzen
Reihe ähnlicher Zeugnisse, wirkte im Laufe der vergangenen Dezennien
tatsächlich "gesellschaftsbildend": nicht nur weil im gegenwärtigen
Rumänien und ebenso im deutsch-sprachigen und westeuropäischen Raum das
öffentliche Wissen um die lange – aus verschiedenen Gründen – unterdrückte
Episode der Verschleppung und Ermordung rumänischer Juden in Transnistrien
während des Zweiten Weltkriegs sich (auch) dadurch bereicherte und befestigte,
sondern auch weil die bisher ausgebliebene Befragung der Opfer zu einer tiefen
und radikalen Umbildung des kollektiven Bewusstseins und dessen moralischen
Bewertung dieser zu bewältigenden Vergangenheit beitrug. Nicht zufällig wuchs
dann das Interesse der Historiker für diesen in vielen Aspekten noch
unerforschten "Stoff" – ein Interesse, das 2003 in der Einberufung
jener von Elie Wiesel geleiten internationalen Kommission von Fachleuten
gipfelte, die den als offizielles Dokument des rumänischen Staates angenommenen
Bericht über den Holocaust in Rumänien anfertigte. Es war immerhin undenkbar
vor zwanzig Jahren, dass rumänische Jugendliche aufgrund von speziell
redigierten Lehrbüchern über die Geschichte der Schoáh in den jetzigen Schulen
unterrichtet werden. Unter den "Funken", die im Dienste einer solchen
einleuchtenden Entwicklung standen, die ebenfalls die Hoffnung auf eine
historisch verantwortungsvollere Zukunft der in Europa integrierten rumänischen
Gesellschaft hegt, befand sich zweifelsohne auch die frühe Publikation von Schriften
von der Art des transnistrischen Tagebuchs von Mirjam Korber.
Diese in der eigenen Familie
beharrlich gepflegte "Erinnerungskultur", die mein Weltverständnis
tief geprägt hatte, blieb nicht ohne Folgen in der Auswahl der Themen und der
Schwerpunkte, denen ich meine Arbeit als Germanist und Historiker gewidmet
habe. Die erneute Lektüre des Tagebuchs meiner Tante und der Erinnerungen
meiner Mutter an die Deportation habe ich diesmal von dem überwältigenden
Eindruck nicht trennen können, die auf mich die Sammlung der von Benjamin Grilj im Czernowitzer Archiv
entdeckten und heuer edierten Briefe aus Transnistrien machte. Die durch das
Spiel des Zufalls gebündelte Korrespondenz, die im Herbst 1941 bei einem aus
Mohyliw zurückkehrenden Überbringer von den rumänischen Behörden beschlagnahmt
wurde, lässt sich als eine Stichprobe der menschlichen (historisch,
soziologisch und psychologisch bedeutsamen) Verzweiflung ohnegleichen
auswerten. Die brutale und für die Menschen unerklärliche Schicksalswende, die
sie aus ihrem bürgerlichen Alltag riss und von heute auf morgen in zu einem
langsamen Tod verurteilte "Unpersonen" verwandelte, das Unbegreifen, dass ein solcher "kultureller" Bruch
in einer Welt, der sie sich zugehörig fühlten, geschehen und sie betreffen konnte
– man erinnere sich an die allgemeine Blendung der Figuren aus dem Aharon Appelfelds Roman Badenheim, die auch beim Besteigen der Waggons, die sie in
die Lager wegtransportieren sollten, diese die Vernunft trotzende Wirklichkeit
nicht wahrnehmen wollten – haben u.a. auch den anständigen Apotheker Garaj (vgl. S. 25 u. 51 f.) aus Câmpulung
(Kimpolung), von dem die beiden Zeugnisse in dem
vorliegenden Buch erzählen, in den Wahn getrieben. Dieser narrative Höhepunkt
markiert aus meiner Sicht jenen dramatischen Augenblick in der Existenz der zu
Unrecht Vertriebenen, als sie zwischen unheilbarer Entmutigung und dem Hoffnung
stiftenden Lebenswillen zu entscheiden hatten.
Die Stimmen der Überlebenden sind
heute immer weniger geworden, jedoch gerade wegen des allmählichen
Verschwindens der Zeitzeugen, wodurch die Judenverfolgung während des Zweiten
Weltkriegs – so neulich der Historiker Norbert Frei – aus der
"Zeitgeschichte" endgültig herausfallen wird, werden die Aufgaben der
Geschichtsschreibung bei der Handhabung der geerbten
"Erinnerungskultur" von Tag zu Tag anspruchsvoller und komplexer. Die
in der Reihe "Schoáh & Judaica"
aufbewahrten Zeugnisse und Dokumente zur transnistrischen "Episode"
in der Geschichte Rumäniens und Europas stellen damit eine unerschöpfliche
Quelle für jene Historiographie dar, die mit den Worten Walter Benjamins
"nicht allein eine Wissenschaft, sondern nicht minder eine Form des
Eingedenkens ist".
Iasi, im Januar 2014
Weitere
Titel über die Verbannung in Transnistrien
Jüdische Überlebens- und
Nichtüberlebensschicksale/Jewish Fates bearbeitet und
herausgegeben von Erhard Roy Wiehn
In und aus Rumänien
incl. Bukowina / In and from Romania
Zum Inhaltsverzeichnis / to the contents of Shoáh & Judaica / Jewish Studies
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