Hartung-Gorre Verlag
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S
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Neuerscheinung
Mai 2010
Gerda Margarethe Oestreicher-Laqueur,
Gerdas Tagebücher
Deutsch-jüdisch-niederländische
Familiengeschichte
1918-1939.
Bearbeitet von Maria Goudsblom-Oestreicher
Herausgegeben von Helly Oestreicher,
Johan Goudsblom und Erhard Roy Wiehn
1. Auflage 2010. 316 Seiten. € 24,80. ISBN 978-3-86628-314-5
Aus
dem Vorwort von Johan Goudsblom
Ein
Denkmal von und für Mutter und Tochter
Maria Goudsblom-Oestreicher, meine
Frau, hat sich seit 1994 und bis wenige Monate vor ihrem Tod im Frühjahr 2009
damit beschäftigt, die Tagebücher ihrer Eltern – Dr. med. Felix Hermann Oestreicher und Gerda Margarethe Oestreicher-Laqueur
– für eine Veröffentlichung zu bearbeiten. Es handelt sich dabei um Tagebücher
ganz verschiedener Art. Nachdem Felix Oestreicher,
seine Frau, zwei seiner kleinen Töchter und seine Mutter im November 1943 als Juden
verhaftet worden waren, hatte er in den KZs Westerbork
und Bergen-Belsen in einem ärztlichen Taschenkalender täglich kurze, sachliche
Notizen über das Leben im Lager gemacht: über Essen, Krankheiten, Todesfälle.
Alles wurde mit Bleistift im Telegrammstil notiert, offensichtlich in der
Absicht, dem Autor später als Gedächtnisstütze zu dienen. Felix Oestreicher war jedoch leider nicht in der Lage, seine
Einträge selbst auszuarbeiten. Nur wenige Wochen nachdem sie in Tröbitz im südlichen Brandenburg von der Roten Armee
befreit worden waren, sind Gerda und Felix Oestreicher
kurz nacheinander an Flecktyphus gestorben. Erst die Bemühungen Marias,
unterstützt von ihrer deutschsprachigen Freundin Anneliese Nassuth,
haben es ermöglicht, dass das Tagebuch mit vielen Dokumenten und Bildern
ergänzt im März 2000 beim Hartung-Gorre Verlag
(Konstanz) erscheinen konnte.
Gerdas Tagebücher sind ganz anderer Art und haben eine ganz
andere Geschichte. Sie umfassen eine viel längere Periode, nämlich von 1918 bis
1929 und von 1938 bis 1939. Sie beginnen in konventioneller Weise: Die
zwölfjährige Gerda hat ein unliniertes Heft in schönem Ledereinband mit
Verschluss bekommen, wo sie ihre häuslichen und schulischen Erlebnisse
niederschreiben kann. Aber schon im ersten Satz zeigt sie eine über Haus und
Schule weit hinausreichende Aufmerksamkeit auch für historische Ereignisse. Es
ist 16. Oktober 1918, und der Erste Weltkrieg geht zu Ende: "Viertes
Kriegsjahr! Noch keine Friedensaussichten!!!" So beginnt Gerdas Tagebuch.
Weniger als einen Monat später kapitulieren die Achsenmächte. Der Schock der
Niederlage bringt Unruhe und Unsicherheit in ganz Deutschland, auch in Brieg, der kleinen Industriestadt südöstlich von Breslau in
Schlesien, dem Wohnort von Gerdas Familie Laqueur.
Das spontane Reagieren auf Ereignisse in der großen Außenwelt
ist eine der Qualitäten, die dieses Tagebuch zu etwas Besonderem machen.
Felix Hermann Oestreicher,
Ein jüdischer Arzt-Kalender -
Durch Westerbork und Bergen-Belsen
nach Tröbitz.
Konzentrationslager-Tagebuch 1943-1945.
Hrsg. von Maria Goudsblom-Oestreicher und Erhard Roy Wiehn.
2. Auflage 2020, 1. Aufl. 2000, 288 Seiten, € 29,80.
ISBN 978-3-89649-411-5
Maria Goudsblom-Oestreicher
Ein einmaliger Arzt-Kalender
Fast fünfzig Jahre hat
das Konzentrationslager-Tagebuch meines Vaters Felix Hermann Oestreicher in einem Schrank gelegen, zusammen mit anderen
seiner persönlichen Papiere und Tagebücher. Es ist ein kleines Büchlein in
einem abgegriffenen Lederetui. Immer wieder schaute ich es an und versuchte es
zu lesen, was mir jedoch unmöglich war. Ich konnte die zumeist mit Bleistift
unter einer Lupe geschriebenen Buchstaben in deutscher Handschrift einfach
nicht entziffern. So legte ich das Tagebuch wieder beiseite und vergaß es.
Ich wusste ja aus
eigenem Erleben, wie es gewesen war, wie das Lager Bergen-Belsen aussah, und
ich hatte lange Zeit nicht das Bedürfnis, daran erinnert zu werden. Meine
Schwester Beate und ich hatten dieses Büchlein aus Tröbitz
nach Amsterdam mitgenommen, wie mein Vater es wünschte, als er selbst krank
wurde, nachdem unsere Mutter schon an Flecktyphus gestorben war. Vater starb
bald darauf im Hospital.
Als ich im Frühjahr
1994 einmal beiläufig meiner Freundin Anneliese Nassuth
- die aus Deutschland stammt, aber seit Jahren in Amsterdam wohnt - davon
erzählte, meinte sie: "Vielleicht kann ich es lesen." Nicht nur
konnte sie die Handschrift lesen, sie war auch bereit, mehr als ein Jahr daran
zu arbeiten, um die Entzifferung zu ermöglichen. Jetzt kann auch ich die
Handschrift lesen, nachdem ich jede von meiner Freundin entzifferte Seite
abgetippt hatte. Noch nicht jedes Wort konnte verstanden werden, aber das
meiste immerhin. Unsere gemeinsame Arbeit liegt hiermit vor.
Das Tagebuch beginnt
mit dem Tag unserer Verhaftung am 1. November 1943; der letzte Eintrag ist vom
21. Mai 1945. Am 31. Mai 1945 starb unsere Mutter, Gerda Oestreicher-Laqueur,
39 Jahre alt, in Tröbitz, Schildastraße
12, und am 9. Juni 1945 starb unser Vater, Felix Hermann Oestreicher,
51 Jahre alt. Beate, damals 10 Jahre alt, und ich, gerade 9 Jahre alt, wurden
von Freunden unserer Eltern von Tröbitz nach
Amsterdam gebracht. Dort trafen wir meine Zwillingsschwester Helly, welche die vergangenen Jahre bei einer Bauernfamilie
"untergetaucht" überlebt hatte.
Mein Vater hatte
sicherlich die Absicht, den Text seines Tagebuches für seine Memoiren über
diese Zeit zu benutzen, wie sie auch andere später geschrieben haben. Jetzt
liegen nur Daten seines Tagebuchs vor, die nackten Tatsachen des schrecklichen
Lebens dieser Zeit. Die Registrierung der täglichen Verpflegung, die harte
Arbeit im "Schuh-Kommando", die immer geringeren Möglichkeiten, sich
als Arzt um seine Patienten wirklich kümmern zu können, der Ärger mit den
Kollegen, der Schmutz und Hunger, das schwierige Verhältnis zu seiner Frau, das
alles ist auch mir in Erinnerung geblieben. So war es seinerzeit.
Aber ich erinnere mich auch, dass mein
Vater uns Kindern, wie er schreibt, die griechischen Heldensagen und so viele
andere Geschichten erzählte, dass er aus der Bibel vorlas, ohne etwas
wegzulassen. Diese Geschichten und die Sorge unserer Mutter und Großmutter
haben Beates und mein Überleben ermöglicht. Und diese Erzählungen lassen mich
an jene Zeit zurückdenken, nicht nur als farblose und traurige Welt, sondern
auch als Erlebnis, das mir die Erfahrung brachte, dass es auf dieser Welt sehr
viel Schönes und Erfreuliches gibt und auch gute Menschen.
(…)
Als die Abschrift im Juni 1997 fertig
war, gab ich sie zuerst meiner Schwester Beate, die sie jedoch nicht mehr
richtig lesen konnte, weil sie schon sehr krank war. Sie starb am 29. September
1997 an Krebs. Sie sagte nur: "Ich erinnere mich nicht mehr an
Einzelheiten wie du, sondern nur, dass ich immerfort Angst hatte." Wir
hatten uns eigentlich sehr wenig über diese gemeinsame Zeit im Lager
unterhalten.
Ende 1998 habe ich den
Text schließlich Roy Wiehn geschickt, ich kannte ihn
schon viele Jahre, wusste auch von seiner Arbeit und seiner Leidenschaft für
das Schicksal der Juden während dieser schrecklichen Jahre des Krieges
1939-1945. Roy war sofort bereit, das Tagebuch meines Vaters in seiner
Publikationsreihe herauszugeben. Ich bin ihm dafür sehr dankbar, und es hat
mich sehr gefreut, dass wir so gut zusammenarbeiten konnten.
Die meisten Fotos in
diesem Buch stammen von meiner Tante Mariechen, der Fotografin Maria Austria
(Maria Oestreicher, 1915-1975, Schwester meines
Vaters), die uns als Kinder wie später auch meine Kinder oft fotografierte; das
Copyright dieser Fotos gehört jetzt dem 'Maria Austria Instituut'
in Amsterdam.
Meine Schwester Helly sagte mir nach Lektüre der ersten Computer-Ausdrucke,
dass sie das Gefühl habe, ihren Vater nun wieder ein wenig zurückzubekommen.
So war es, und so ist
dieses Buch entstanden. Mein Mann Joop Goudsblom hat
mir immer zugehört und diese Arbeit durch sein Mitgefühl unterstützt.
Amsterdam, im Dezember
1999
Die Erinnerungen von Felix Hermann Oestreicher
ergänzen unsere Bücher über jüdische Schicksale aus
den Niederlanden,
die von Erhard Roy Wiehn herausgegeben
wurden:
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