Hartung-Gorre Verlag
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Februar
2024 |
Olga Hempel
Immer
ein bißchen revolutionär
Lebenserinnerungen
einer der ersten Ärztinnen in Deutschland
1869-1954
Herausgegeben von Irene Gabriele Gill
und Erhard Roy Wiehn
2.
Auflage 2024, 162 Seiten. € 19,80.
ISBN
978-3-86628-025-0
Inhalt
Irene Gabriele Gill: Eine
lebendige Stimme aus der Vergangenheit
Erhard Roy Wiehn: Immer ein bißchen
revolutionär gewesen
Olga Hempel: Immer ein bißchen revolutionär
Lebenserinnerungen
1. Danzig (1869-1891)
2. England und Paris (1891-1897)
3. Freiburg und Breslau (1897-1902)
4. Berlin und Ferch (1902-1919)
5. Freiburg (1919-1938)
6. Persien (1938-1946)
7. Kalifornien (1946-1954)
Stammbaum
Olga Hempel
Irene Gabriele Gill
Aus dem Vorwort von
Irene Gill:
Olga Hempel – Eine lebendige Stimme
aus der Vergangenheit
Meine Großmutter Olga Hempel
(geb. Fajans, 1869–1954) - allgemein Frau Doktor
genannt - war klein, rundlich und trug schwarz. Von der Seite sah sie wie ein
großes B aus. Ihr silbernes Haar war in einen kleinen Dutt oben auf ihrem Kopf
zusammengerafft. Sie hatte große, intelligente grau-blaue Augen, die mich
aufmerksam über ihre Brille anschauten. Sie stand auf dem kleinen Hügel und
schwang ihren Regenschirm im Kreis über die grüne Landschaft und sang in einer
tiefen, warmen Stimme:
O
Täler weit, o Höhen
Du schöner, grüner Wald
Du meiner Lust und Wehen
Andächt'ger Aufenthalt.
Später machte sie mich auf
eine Lerche aufmerksam, die singend im Kreise aufwärts flog. "Wenn du dich
dreimal umdrehst", sagte sie, "wirst du sie nicht mehr sehen können -
nur hören, so weit fliegt sie hinauf!" Ich drehte mich gehorsam um, und
siehe da: Sie hatte recht! Es war mir klar, dass meine Großmutter allwissend
war.
Sie hatte ihre Riten. Jeden
Abend mussten wir Stuhl, Tischchen, Decke, Bücher, Schreibsachen und Lesebrille
an eine freie Stelle an der Hecke hinter dem Häuschen tragen. Da ließ sie sich
dann nieder, um den Sonnenuntergang zu sehen, - falls es langweilig wurde,
konnte sie lesen oder Briefe schreiben. Sie hatte immer etwas zu schreiben.
Das war wohl im Jahre 1938 in
Dänemark, als ich etwa fünf Jahre alt war. Wir waren wegen Hitler schon 1936
aus Deutschland ausgewandert. Davor hatten wir – meine Mutter, meine älteren
Geschwister und ich - bei Großmutter Olga in Güntersthal
bei Freiburg gewohnt. Dort bin ich geboren; Oma spielte in den ersten drei
Jahren meines Lebens eine ebenso große Rolle wie meine Mutter. Mein Vater war
abwesend...
Nach dem Besuch bei uns in
Dänemark fuhr sie nach Persien. Wir gelangten 1939 nach England, und während
des Krieges bekamen wir Briefe und Pakete von Oma Olga. Erst nach dem Krieg sah
ich sie wieder: Sie besuchte uns auf ihrer Reise nach Amerika. Danach sah ich
sie nie wieder. Aber dank ihrer vielen Briefe (ich habe einen Schuhkarton
voller Briefe, auch solche, die sie in den 1920er Jahren an meine Mutter
schrieb) und der drei schwarzen Hefte, in denen sie ihre Lebenserinnerungen
aufschrieb (und auch dank der Erzählungen meiner Mutter) kenne ich sie, ihr
Leben, ihre Umgebung, ihre Anschauungen und ihre ganze Persönlichkeit sehr gut.
Sie hatte einen erstaunlichen
Mut. Sie setzte sich durch; sie studierte Medizin, als das für Frauen noch
nicht normal war; sie führte erfolgreich chirurgische Operationen durch, und
zwar ohne Assistenz und mit minimalen Hilfsmitteln; sie verließ ihren Mann, als
sein Verhalten unerträglich wurde. Auch die Nazis konnten sie nicht
kleinkriegen, trotz ihrer jüdischen Abstammung: Sie hatte gar nicht vor
auszuwandern, als sie ihre ältere Tochter (meine Tante) in Persien besuchte.
Aber sie verbrachte dann doch die Kriegsjahre dort und ihre letzten Jahre in
USA. Deutschland hat sie nie wieder besucht.
Sie war sprachgewandt und
witzig, respektlos, ja kritisch gegen jegliche Obrigkeit, ungeduldig bei allem Zweitrangigem ("Da bekam ich wieder die Ungeduld in den
Kniekehlen", sagte sie nach einem minderwertigen Konzert). Sie hatte keine
Religion – dafür aber eine fast mystische Liebe zur Natur, zu Pflanzen und
Blumen, zur (guten!) Musik und zur Literatur. Sie war eine Romantikerin mit
einer scharfen Zunge. Ihre Kindheit und Jugend in Danzig, ihre geliebten Eltern
und Großeltern, ihre tiefe Jugendliebe, ihre Erlebnisse – alles das ist für
mich jetzt, ein halbes Jahrhundert nach ihrem Tod, so lebendig wie meine
eigenen Zeitgenossen. Jetzt sollen auch Sie - liebe Leserin, lieber Leser - sie
kennenlernen.
Meine Großmutter begann schon
im November 1943 in Persien, ihre Lebenserinnerungen in drei schwarzen Heften
niederzuschreiben. In allen Dingen immer nur ihrer Vernunft folgend, benutzte
sie ihre eigene Orthographie, z. B. kein ß, viele Abkürzungen, Zahlen nie in
Buchstaben, keine Paragraphen, keine Ränder – das wäre doch
Papierverschwendung! Ihre Briefe sind ähnlich vollgeschrieben. Bei Kriegsende
hat sie die Arbeit an ihren Erinnerungen dann liegen lassen und nahm sie erst
in Kalifornien wieder auf. Dort hat sie diesen Anfang verfaßt
sowie die Schilderung ihrer Großeltern und Eltern.
Irene Gabriele Gill, Oxford, im Juli
2005
Olga Hempel war eine der
ersten Ärztinnen in Deutschland. Sie studierte in Freiburg, Heidelberg, Breslau
und zog anschließend mit ihrem Ehemann und Kindern nach Berlin. Dort arbeitete
sie zunächst in einer Berliner Klinik und eröffnete später eine eigene Praxis
in Ferch am Schwielowsee. 1938 zog sie zu ihrer Tochter nach Persien und machte
sich 1946 zu ihrer letzten Lebensstation auf, in die USA, wo sie 1954 starb.
Olga
Hempel war eine Cousine der Berliner
Malerin Julie Wolfthorn (1864-1944), die oft in
Ferch weilte und malte und die über 40 Jahre ihres Lebens in der
Kurfürstenstraße 50 gelebt hat. Julie Wolfthorn, 1864
als Julie Wolf in Thorn geboren, wurde 1942 interniert und nach Theresienstadt
deportiert und verstarb 1944. Zusammen haben die beiden Frauen Julie Wolfthorn
und Olga Hempel eine gemeinsame Zeit in Paris verbracht, worüber Olga Hempel in
ihren Lebenserinnerungen ausführlich schrieb, ebenso über ihre Berliner Zeit.
Irene
Gabriele Gill
Erfahrungen einer dem Holocaust Entkommenen
Herausgegeben
von Erhard Roy Wiehn
1. Auflage
2024. 276 pages. € 24.80. ISBN 978-3-86628-806-5
Weiterhin aktuell sind die folgenden
von Erhard Roy Wiehn herausgegebenen Titel:
Jüdische Überlebens- und Nichtüberlebensschicksale in
Deutschland
Zum Inhaltsverzeichnis
der Edition / to the contents of the edition Shoáh & Judaica / Jewish Studies
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